Amine Haase: Gepräch mit Douglas Gordon  (Gespräche mit Künstlern, Bd. 1146) Band 146, Juli / August 1999, Seite 312, GESPRÄCHE MIT KÜNSTLERN 

DOUGLAS GORDON

Auf der Rückseite des Spiegels

EIN GESPRÄCH VON AMINE HAASE

Feature Film" nennt Douglas Gordon seine Arbeit, die er als Preisträger des Central-Kunstpreises im Kölnischen Kunstverein vorgestellt hat. Dieser "Hauptfilm" besteht aus Musik, in die wir räumlich eintauchen, und aus extremen Nahaufnahmen, die den Dirigenten zeigen sowie den menschenleeren Raum. Das Orchester der Pariser Oper, das von James Conlon dirigiert wird, rückt nicht ins Bild, kein Zuhörer, nur rote Samtsitze. Bei konzentriertem Hinhören, selbst in die Stille, erkennen wir Bernard Herrmanns Musik zu Alfred Hitchcocks "Vertigo". Auch wenn das Auge sich auf die Hand, das angeschnittene Gesicht, den Oberkörper des Dirigenten konzentrieren mag, tauchen aus der Erinnerung die Filmbilder auf: James Stewart und Kim Novak in tragischer Verkettung, verirrt in einem Orientierungssystem, dessen Bezugspunkte sich mit dem Verlust der eigenen Identität extrem verschieben.

"Vertigo", das in "Höhenangst" gespaltene Ich der Hauptfigur Scottie, bietet Douglas Gordon  ideale Möglichkeiten, die Doppeldeutigkeit der Bilder zu demonstrieren - und das ohne Hitchcocks Filmbilder, allein mit Musik und Stille, punktiert durch die Gesten des Dirigenten. Bei der Arbeit, die den 1966 in Glasgow geborenen Künstler auf Anhieb bekannt machte, bei "24 Hour Psycho", dehnte Gordon einen anderen berühmten Hitchcock-Film auf 24 Stunden - und ließ den Ton weg. Dadurch wurde Hitchcocks artistisch gemilderter Voyeurismus in fast unerträglichen Realismus verwandelt und die Kunst der Komplizenschaft überführt. Jetzt, sechs Jahre später, bleibt von "Vertigo" allein die Musik übrig - und unsere, oft ach so trügerische, Erinnerung an die Bilder. Gordon katapultiert den Zuhörer / Zuschauer in die Rolle des Künstlers, indem er heillose Verwirrung stiftet. Kein Heil verspricht die Kunst, sie sät Zweifel und bereitet so womöglich eine Zukunft der Bilder vor, die Lichtjahre entfernt von konventionellen Kunst-Vorstellungen liegt.

Die "Komposition" der Bilder, Töne, Stille, Leere ist äußerst komplex. Gordon hat das Filmmaterial, das nach seinen Regieanweisungen von drei Kameras aufgenommen wurde, virtuos geschnitten. James Conlon befindet sich - auch wenn lediglich sein Arm, seine untere Gesichtshälfte, sein Oberkörper im schwarzen Pulli zu sehen ist - stets im Rhythmus der musikalischen Bewegung. Er ist zu sehen, wenn im Film Herrmanns Musik die Aktion begleitet. Sobald im Film die Musik schweigt und die Darsteller sprechen, ist die Tonspur einbezogen, aber so gut wie nicht hörbar. Die Bilder schwenken vom Dirigenten weg auf die leeren roten Samtsitze des Saals. Für die Video-Version der Ausstellung nimmt das 124 Minuten in Anspruch, exakt die Dauer von "Vertigo". Eine Kino-Version, bei der die "Leerstellen" wegfallen, dauert 75 Minuten.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Parallelität von Schwarz und Weiß, Gut und Böse, die Umkehrung der Erwartung, die Perversion der Bilder - das alles ist in Gordons "Feature Film" enthalten, der somit eine Fortsetzung und Pointierung seiner bisherigen Arbeit ist. Hitchcocks "Vertigo" zeigt im Vorspann ein Auge, aus dem sich eine Spirale dreht - Metapher des Schwindelgefühls. Gordons "Feature Film" endet mit einer Einstellung auf James Conlons Dirigentenauge, klar und unbestechlich auf das (unsichtbare) Orchester gerichtet. Die Wirklichkeit fordert die Kunst heraus, an ihr reibt sich jeder Künstler, und jede Generation zieht andere Schlüsse aus der Auseinandersetzung. Die heute etwa Dreißigjährigen haben längst die Spiegelungen der Realität in den virtuellen Welten als zweite Wirklichkeit erkannt und jonglieren mit den zwei Seiten dieser Medaille. Gordon bezieht sich auf die - trügerische - Wirklichkeit der Erinnerung: an Filmbilder, an Gefühle, an Erfahrungen. Er möchte, wie Alice im Wunderland und so viele Künstler auch früherer Generationen, auf "die andere Seite des Spiegels" gelangen. Er möchte "die Wirklichkeit" berühren können - und weiß doch von der Unmöglichkeit. Denn Wirklichkeit bedeutet Gegenwart, und die droht zwischen den trügerischen "heiten" der Vergangenheit und der nicht-erlebten Zukunft aufgerieben zu werden.

Die Kölner Premiere von "Feature Film" gab die Möglichkeit, mit Douglas Gordon  ein Gespräch zu führen und ein kurzes Interview mit seinem "Hauptdarsteller" James Conlon, Kölns Generalmusikdirektor, zu führen.

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Amine Haase: Für den Kölnischen Kunstverein haben Sie anläßlich des Central-Kunstpreises eine Arbeit entwickelt, die auf der Musik von Bernard Herrmann für Hitchcocks "Vertigo" basiert. Ihr erster künstlerischer Erfolg war "24 Hour Psycho". Was macht Hitchcock-Filme für Sie so anziehend?

Douglas Gordon : Ich denke, das ist keine Geschichte, die sich nur auf Hitchcock und mich bezieht. Aber ich erinnere mich an seine Filme am besten, besonders aus meiner Kindheit. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, habe ich Filme wie "North by Northwest", "Strangers on a train" gesehen. "Psycho" habe ich gesehen als ich älter war, aber ich wußte schon einiges über den Film. Ich erinnere, daß meine Mutter immer gesagt hat: "Das solltest Du nicht sehen, Du bist zu jung dafür." Das selbe passierte bei Hitchcocks "The Birds": Die sollte ich auch nicht als Teenager sehen, da der Film angeblich zu beängstigend, zu intensiv war. Also habe ich Erinnerungen an Filme, die ich gesehen habe, und an die, die ich nicht sehen durfte. Mag sein, daß sie deshalb immer wieder ins Gedächtnis zurückkommen.

Also geht es bei Ihrer Arbeit mehr um Erinnern als um Filme?

Ja, das denke ich schon. Für mich ist der Film nur ein Kanal, ein Weg zu den Menschen, zum en Leben und zur wirklichen Zeit, zur Erinnerung an irgend etwas oder besser als Erinnerung: eine Vorausahnung. Nicht alles dreht sich immer ums Gedächtnis. Wir haben auch Kenntnis von der Gegenwart und von einer Vorwegnahme der Zukunft. Hitchcock, Marcel Proust, Heidegger, alle zusammengemixt - mag sein, daß das eine Arena ist, in der ich mir ein Vorspielen meiner Ideen vorstellen kann.

Ist es der Gedanke von der verlorenen und der wiedergefundenen Zeit, der Proust für Sie anziehend macht, oder ist es seine Art der Zeitlupen-Beschreibung des Lebens?

Proust gab mir die Möglichkeit, zu erklären, warum ich - in erster Linie - Hitchcock benutze. Er führte weiter zu Walter Benjamin zum Beispiel. Es ist kein nostalgisches Ins-Gedächtnis-Rufen von Dingen; es kann auch ein kritisches Erinnern sein: Indem man die Idee vertritt, daß Erinnerung nur ein Schlüssel, nur ein Angelhaken für die Leute ist. Man kann Leute in eine andere Geschichte locken, indem man sie ermuntert, sich an ein Detail zu erinnern, und beginnt, Dinge zu verändern. So wie der Geschmack von Prousts Madeleine Erinnerungen weckt, immer mehr Erinnerungen. Genau das untersuche ich. Es handelt sich nicht um eine große Kritik am Film, sondern ich benutze vielmehr den Status des Films als ein informelles - aber auch ein korrumpierendes - Element.

Ist Prousts Erzähl-Rhythmus vergleichbar mit Ihrem Rhythmus - nicht des Erzählens, sondern des Analysierens, besonders bei "24 Hour Psycho"?

Genau. Wenn ich an einen bestimmten Künstler denke, so ist das nicht auf das allgemeine Kunstgebiet begrenzt, oder begrenzt darauf, was ich tun möchte. Für mich war Schreiben immer sehr wichtig - ebenso das Schreiben anderer wie auch mein eigenes. Das hat eine Menge mit Zeit zu tun. Bilder ereignen sich - im Film oder in Gemälden oder sonst etwas. Lesen hat viel mehr mit der Beschaffenheit von Bildern zu tun. Lesen und Schreiben haben keine höher entwickelten kognitiven Mechanismen, aber anders entwickelte als Kunst-Mechanismen. Und es interessiert mich, was passiert, wenn man Kunst so macht wie man ein Buch schreibt. Denn man braucht Zeit, um vom oberen Rand der Seite zum unteren zu kommen. Es setzt einen physischen Einsatz voraus, die Seiten umzudrehen. Und um vom Anfang eines Buches an sein Ende zu gelangen, benötigt man mehr Zeit als vom Anfang bis zum Ende eines Bildes zu kommen. Es interessiert mich zu versuchen, all das zusammenfließen zu lassen - vielleicht das Stück von Proust oder besser: Beckett oder Joyce. Alles was ich lese, kommt zusammen. Aber man kann auch eine Kurzgeschichte von James Joyce lesen, während man fernsieht. Was mich an "24 Hour Psycho" interessiert, ist, daß die Handlung so langsam abläuft, daß man nie vorwegnehmen kann, was als nächstes passiert. Die Vergangenheit ist eine Verwirrung des Gedächtnisses. Die Bilder folgen einander zu langsam, als daß man sich erinnern könnte. Die Vergangenheit geht weiter und die Zukunft passiert nie, also bleibt alles in der Gegenwart. Und die Gegenwart ist ein ständiges Zusammenfließen von Zukunft und Vergangenheit. So - wie Heidegger sagt - existiert nichts wirklich.

Versuchen Sie, einen Zeitlupen-Lese-Rhythmus in die Kunst einzuführen?

Es interessiert mich, was das menschliche Gehirn schnell und genau erfassen kann und wie man diese Wahrnehmungen stoppen kann. Wir können einen Film mit 24 Einstellungen pro Sekunde lesen; das ist eine Tatsache. Aber was passiert, wenn man den Mittelwert verändert? Wenn er schneller wird, erscheint alles wahrscheinlich weniger analytisch; umgekehrt, wenn er langsamer ist, erscheint alles analytischer. Für mich gab es in einigen Filmbildern, die ich benutzt habe, einen Widerspruch, da das Visuelle damit begann, was man als Zeitlupe ansehen konnte, die wahrscheinlich zufällig war, dann aber Neugier erweckte durch physische Aktivität. Natürlich, wenn man eine Kunst-Erziehung hinter sich und etwas vom Post-Strukturalismus mitbekommen hat, dann kann man Filme und Bilder analysieren und weiß, wie man zu einem klaren Verständnis kommt, indem man sich Bild für Bild vornimmt. Aber als ich angefangen habe, mir so etwas wie "24 Hour Psycho" in Zeitlupe anzuschauen, habe ich gemerkt, daß es gar nicht einfach war, klar zu sein; es kann sogar das Gegenteil sein: Daß ein Bild nach dem anderen die Idee von einer sehr einfachen Erzählung verlorengeht, und man wird in so etwas wie eine Makro-Erzählung hineingezogen. So wird aus etwas, was normalerweise nur eine Minute einer Filmhandlung einnimmt, ein Fünf-Minuten-Epos in dieser neuen Art, es anzuschauen. Der Erzähl-Zyklus ist einfach: Es gibt einen Psychopaten, der Menschen ermordet. Wenn man etwas so simples nimmt und es in Zeitlupe betrachtet, dann passiert es natürlich, daß man jemanden sieht, der ein Bad säubert, aber man vergißt fast die Tatsache, daß dort jemand umgebracht worden ist, und daß das, was da weggewischt wird, das Blut der ermordeten Person ist. Was man sieht, ist geradezu abgeschnitten von der gesamten Realität. Wie in Jean-Paul Sartres Vorstellung: Wenn man lang genug auf die Hand schaut, dann erscheint sie psychologisch losgelöst vom Rest des Körpers. In einem Zeitlupe-Film dauert es so lange, bis etwas getan wird, daß man vergißt, wo es begonnen hat. Es löst sich sozusagen selber los. Vielleicht ist es auch wichtig anzumerken, daß ich all diese Filme in einer häuslichen Umgebung angesehen habe. Zeitlupe wird von Wissenschaftlern benutzt, um Struktur-Analysen zu machen. Zeitlupe wird aber auch von Kindern und Jugendlichen als eine Art Fernzusehen angewendet, und sie tun es oft mit erotischen Wunschvorstellungen. Mir gefällt die Vorstellung, daß das, was jetzt in Galerie- oder Museums-Situationen gezeigt wird, diese beiden Komponenten enthält. Es ist weder in einem Schlafzimmer, noch in einer Akademie. So wird das Museum vielleicht ein interessanterer Ort, wo man nicht weiß, ob die Person, die neben einem steht, sich den Film als Wissenschaftler anschaut oder als Voyeur. Oder er ist vielleicht beides zugleich.

Wären Sie mit der Deutung einverstanden, daß die Zeitlupe auch eine Form des Widerstandes gegen die Schnelligkeit der Zeit ist?

Ich zögere zuzustimmen. Nein, ich bin wie die meisten Leute, die es mögen, 25 TV-Kanäle schnell durchzuswitchen. Schnelligkeit hat zum Teil mit Qualitätsverlust zu tun. Aber mir gefällt der Gedanke nicht, daß man nicht in einer schnellen Welt leben könnte.

Weil das einen zu moralischen Aspekt hat?

Nein, das nicht, aber wenn ich mit "Ja" antworten würde, dann würde ich und vor allem meine Arbeit zu nostalgisch erscheinen. Es könnte eventuell ein Aspekt meiner Arbeit sein, aber nicht in meinem Leben. Ich mache kein politisches Statement gegen Schnelligkeit. Ob man Bilder anschaut, ob man schreibt oder liest - das alles kann die selbe Geschwindigkeit erfordern.

Und was ist mit dem moralischen Aspekt, wenn Sie von Voyeurismus sprechen?

Das Ergebnis von Voyeurismus ist absolut in der Welt. Es ist eine Frage der Zeit: Privilegierte Leute haben Zeit, sich Bilder anzuschauen und andere Leute anzuschauen. Heute weist der Voyeurismus zwei Wirklichkeiten auf: Jeder ist einbezogen als Objekt und als Subjekt. Wenn wir Hollywood anschauen oder auch Seifen-Opern im Fernsehen, da gibt es immer eine Form des Voyeurismus. Ich sehe das als Subjekt - als persönliches Subjekt der Story oder als ein Element beim Aufbau einer Erzählung, die uns als Publikum vom Regisseur erzählt wird, und zu der er uns vermittelt, daß wir sie eigentlich nicht ansehen sollten, oder zumindest, daß wir etwas anschauen, was ein wenig unerlaubt ist. Diese Vorstellung ist global und liegt in unserer Kultur begründet. Ich denke, ein kleinerer Teil der Bevölkerung, der immer einen privilegierten Zugang zu Bildern hatte und einen privilegierten Umgang mit Bildern pflegt, wird nicht mehr als Voyeur gelten; er wird den nächsten Schritt tun. Und der nächste, radikale Schritt nach dem Voyeurismus ist der Sadismus. Man wird nicht mehr durch eine Glaswand hindurch und dahinter schauen, sondern man wird durch die Glaswand hindurchgehen und anfangen, sie zu berühren - in einem physischen oder in einem metaphorischen Sinn.

Hier möchte ich Sie zitieren: "Ich denke, daß Sadismus ein vorrangiges Motiv ist, vor allem für meine Beziehung zum Kino". Ist Sadismus nicht eines der letzten Tabus?

Schauen Sie sich meine "Libertine Reader" an . . . Voyeurismus war auch tabu. Heute ist es nicht gerade akzeptiert, aber epidemisch verbreitet.

Werden die Leute nicht zum Voyeurismus getrieben - durch das Fernsehen, durchs Internet?

Ja, wenn ich "epidemisch" sage, dann meine ich nur: es ist überall. Voyeurismus wird in die Kultur eingeflößt. So ist er nicht mehr tabu. Das könnte bedeuten, daß der Voyeur sich auf der anderen Seite des Fensters befindet, egal ob er hinein- oder herausschaut. Aber der Sadist ist derjenige, der das Fenster öffnet, weitermacht und anfängt, es zu berühren. Der Sadist mischt sich ein - physisch oder metaphorisch. Das ist ein Sinnbild, und was ich mit einigen meiner kleineren Arbeiten versuche, daß ich etwas vom Kino nehme und physisch etwas damit mache. Wenn Sie also in eine meiner Ausstellungen gehen, haben Sie die Gelegenheit, etwas zu tun, was Sie im Kino nie getan haben, nämlich die Projektionswand zu berühren. Im Kino ist es üblich, Distanz zu halten. Und die Metapher für Distanz ist die Metapher des Voyeurismus. Aber wenn Sie immer näher und näher kommen, können Sie schließlich in die Situation des Sadisten geraten, wenn Sie nah genug sind, um sich einzumischen. Sie können auf die andere Seite der Projektionswand gehen und sie sich aus der "perversen" Situation anschauen. Diese Dinge lassen mich über Sadismus nachdenken. Sadimus interessiert mich als Metapher, nicht als Tatsache im Internet oder so. Wenn heute der Voyeurismus so präsent ist, was wird dann der nächste Schritt sein? Wenn man sich umschaut und auch in die Geschichte zurück, dann würde ich sagen: Nach dem Voyeurismus kommt der Sadismus.

Versuchen Sie denn mit Ihrer Arbeit, die Wand niederzureißen, die Voyeurismus und Sadismus noch trennt?

Mich interessiert daran, daß die Definitionen sich verschieben hin zu Positionen, die wir vielleicht nicht nehmen. Wenn wir dieses Gespräch 1899 geführt hätten, wäre es, was die Vorstellung des Voyeurismus betrifft, bestimmt ganz anders verlaufen. Mag sein, daß in 50 Jahren die Idee des Sadismus nicht dasselbe bedeuten wird wie heute.

Wollen Sie das herausfinden - wie sich die Bedeutungen der Begriffe mit der Zeit verändern?

Ja, aber ich bin heftig kritisiert worden, weil ich so etwas über Sadismus gesagt habe.

Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß eine Arbeit wie "Head" einen sadistischen Aspekt haben kann, zumindest nicht im geläufigen Sinn von Sadismus. Diese 30 Sekunden Leben nach einer Enthauptung haben doch eher einen medizinischen als einen sadistischen Aspekt.

Ich benutze das Wort Sadismus speziell für die Art und Weise, wie man sich Filme im Kino anschaut. Der sadistische Impuls ist mit dem früheren Begriff des Voyeurismus verbunden, der in Beziehung steht zum Kino oder auch zur Photographie - nicht zur Literatur. Sie "schauen" sich einen Text nicht "an". Was die Arbeit in zwei Teilen "Head" und "30 seconds text" betrifft: Ursprünglich war "30 seconds text" eine Komponente von "Head". Ich habe "Head" nur einmal gezeigt, in Upsala; ich habe es nie wieder gezeigt, weil ich von den Bildern zu sehr schockiert war. Der Kontext in Upsala war die alte Burg, das alte Gebäude, das Teil des Museums in dieser alten Universitäts-Stadt ist. Ich war von den Räumen fasziniert, die gerade restauriert wurden. Man war dabei, den Riesenraum in kleinere Raumabschnitte aufzuteilen. Und an einem Punkt war das Relief eines Engels. Sie schnitten ihm den Kopf ab. Das war sehr bizarr: das Bild eines Engels mit abgeschnittenem Kopf. Ich war schockiert, daß sie so grausam mit einem wunderschönen Stück Dekoration waren. Ich war schockiert, aber sehr ruhig. Also habe ich die "30 seconds text" auf die Füße des enthaupteten Engels projiziert. Das war der erste Raum. Im nächsten Raum gab es eine Projektionsleinwand, auf der ein enthaupteter Kopf auf einer Photographie zu sehen war; aber man konnte es nur erkennen, wenn man zuerst den Text gelesen hatte. (Ein ärztliches Protokoll von 1905 über die "Kommunikation" mit dem Kopf eines Enthaupteten direkt nach dessen Enthauptung.) Dann im letzten Raum konnte man den Körper ohne Kopf sehen - auch im Film. Die Bilder waren überhaupt nicht deutlich, mal scharf eingestellt, mal nicht. Aber, wer sich das anschaut, gibt dem Gesehenen die Bedeutung einer Tatsache. Physisch muß man den Platz in der Mitte zwischen Kopf und Körper einnehmen. Ich denke, es hat funktioniert, aber es war sehr hart. Ich hab's nie wieder gezeigt - vielleicht tu' ich es später einmal.

Aber wenn Sie den Text allein zeigen, wie 1997 auf der Biennale Venedig, dann sind doch die Worte von den Bildern "enthauptet" ...

Das ist in Ordnung. Alle Arbeiten von mir bilden so etwas wie eine große Familie. Und genau wie in einer Familie ist es so, daß wenn der Sohn das Elternhaus verläßt, bleibt er dennoch Teil der Familie. Was die Arbeit von Upsala betrifft, da gibt es einen Teil, den es nie wieder geben wird: der Engel. Also können "30 seconds text" für sich allein stehen.

Erzählen Sie mir etwas über Ihre Arbeit als eine Familie.

Ich betrachte meine Arbeit als Familie, aber auch als die Konstruktion eines großen Buches. Und manchmal sind in einem großen Buch die Fußnoten wichtiger als der Haupttext, und manchmal ist es umgekehrt. In jedem Fall ist es wichtig, von einem Detail zum Überblick zu wechseln und wieder zurück. Heute mögen einige meiner Arbeiten wie Fußnoten zu meiner gesamten Arbeit erscheinen, aber später können sie wichtiger werden im Gesamtzusammenhang.

Wen könnten Sie als Ihren "maitre de pensée" bezeichnen? Beckett vielleicht?

Beckett und Joyce werden oft erwähnt, wenn von meiner Arbeit die Rede ist. Natürlich lese ich Beckett mit großer Freude. Man kann den Eindruck nicht verges-sen, den seine Bücher auf einen machen, und wenn man durch Londons Straßen geht und glaubt, seinen Geschöpfen zu begegnen, ihre Stimmen zu hören. Aber mein Interesse wechselt - letztes Jahr hätte ich geantwortet: William Blake und Stevenson.

Wie treffen Sie die Wahl für jedes Ihrer spezifischen Stücke - zum Beispiel "Psycho" oder "Vertigo", Walter Benjamin oder Heidegger?

Meine Art, Kunst zu machen, hat wenig zu tun mit den klassischen Vorstellungen wie Inspiration, Intuition und sogenanntem Talent. Es ist mehr eine Arbeit des Erforschens, des Gedächtnisses, über Geschichten, die sich ereignet haben, Filme, die ich gesehen habe - vor x Jahren. Ich mag Rätselhaftes im Leben, aber nicht in der künstlerischen Arbeit. Mich interessiert, was passiert, wenn man solange etwas anschaut, bis man es nicht mehr sieht. Man schaut sich ein Bild an, man beginnt, durch das Bild hindurchzuschauen, und man kommt an der anderen Seite an - und dann kehrt man zurück auf die Vorderseite des Bildes. Das kann ein hübsches Ping-Pong-Spiel mit dem Bild sein.

So wie "Alice in Wonderland" und die andere Seite des Spiegels?

Der Spiegel hat seinen Platz in Arbeiten, die ich kürzlich in New York gezeigt habe, in der Dia Art Foundation und in der Gagosian Gallery. Viele meiner Arbeiten haben mit Doppelgängern zu tun. Aber bei den New Yorker Sachen habe ich mit Spiegelbildern gearbeitet. In der Dia Art Foundation hieß das "Left is right and right is wrong and right is right and left is wrong". Die Bilder stammen aus dem Otto-Preminger-Film "Whirlpool", in dem eine Frau gefangen ist in der Mitte zwischen Gut und Böse. Ich habe den Film in zwei Stücke geschnitten, und die werden wie siamesische Zwillinge gezeigt: auf der einen Seite die Einstellungen 1,3,5,7, etc. und auf der anderen Seite die Einstellungen 2,4,6,8, etc. Daraus ergibt sich ein merkwürdiger stroboskopischer Effekt. Das Stück bei Gagosian heißt "Through a looking glass" - nach "Alice in Wonderland"! Und dabei habe ich Bilder aus "Taxi Driver" verwendet: Robert DeNiro schaut in einen Spiegel und spricht zu sich selbst. Aber wir sehen den Spiegel nicht. Die Szene gibt es in zwei Versionen, so daß es aussieht, als führe DeNiro einen Dialog mit sich selber, immer wieder von Neuem. Mir gefällt die Vorstellung, die Dinge seien nicht so wie wir sie sehen. Zum Beispiel kann etwas, was wie mangelnde Qualität aussieht, gerade die Qualität sein. Während der Berliner Filmfestspiele war ich eingeladen, "Bootleg (Empire)" und "Five Year Drive-By" in der Nationalgalerie zu zeigen. Der Gegensatz zwischen der Perfektion des Mies-van-der-Rohe-Baus und der absichtlichen Amateurhaftigkeit meiner Filme war eine sehr interessantes Paradox, auch daß man tagsüber fast gar nichts sah, weil es zu hell war. Herausforderungen sind im Leben notwendig. Wir müssen gar nicht nach "dem Unerwarteten" suchen; es macht das Leben bestimmt interessanter, wenn wir uns selber Zeit und Raum nehmen, es zu genießen, wenn es sich ereignet.

Aus dem Englischen von Amine Haase.

BIOGRAPHISCHE DATEN
DOUGLAS GORDON, geb. 1966 in Glasgow. 1984-1988 Glasgow School of Art, Glasgow. 1988-1990 The Slade School of Art, London. 1996 Turner Prize, London, Kunstpreis Niedersachsen, Kunstverein Hannover. 1997 Premio 2000, Biennale Venedig, DAAD-Stipendium, Berlin. 1998 Central-Kunstpreis, Köln. Lebt und arbeitet in Glasgow und ...
Einzelausstellungen (Auswahl):
1987 Transmission Gallery, Glasgow (mit Craig Richardson). 1991 Orpheus Gallery, Belfast (mit Roderick Buchanan). 1993 Tramway, Glasgow; Kunstwerke Berlin; ARC Musèe d'Art Moderne de la Ville de Paris. 1994 Lisson Gallery, London. 1995 K³nstlerhaus Stuttgart; Jack Tilton Gallery, New York; The Agency, London (mit Graham Gussin); Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven; Espace Publique, Centre Pompidou, Paris, Rooseum Espresso, Malmö. 1996 FRAC Languedoc-Roussillon, Montpellier; Museum für Gegenwartskunst, Zürich. 1997 Bloom Gallery, Amsterdam; Galleri N. Wallner, Kopenhagen; Gandy Gallery, Prag; Kunstverein Hannover; Galerie Yvon Lambert, Paris; Deutsches Museum Bonn im Wissenschaftszentrum. 1998 Kunstverein Hannover.
Gruppenausstellungen (Auswahl):
1993 "Prospekt", Frankfurter Kunstverein, Schirn Kunsthalle, Frankfurt; "Viennese Story", Wiener Secession. 1994 "Wall to Wall", Leeds City Art Gallery, South Bank Centre, London; "Conceptual Living", Rhizome, Amsterdam; "The Institute of Cultury Anxiety: Works from the collection", ICA Institute of Contemporary Arts, London; "WATT", Witte de With & Kunsthal, Rotterdam; "Points de Vue: Images d'Europe", Centre Pompidou, Paris. 1995 "Take me (I'm yours)", Serpentine Gallery, London, Kunsthalle Nürnberg; "Aperto", FRAC Languedoc-Roussillon, Conqueyrac; Biennale Lyon. 1996 "Manifesta 1", Rotterdam. 1997 Biennale Venedig; Skulptur.Projekte in Münster; Biennale Lyon. 1998 "Wounds: Between Democracy and Redemption in Contemporary Art", Moderna Museet, Stockholm; "Hugo Boss Prize Exhibition", Guggenheim Museum SoHo, New York.